Was wir von Kindern über intuitive Ernährung lernen können. Und warum wir sorgenfrei auf ihr Bauchgefühl vertrauen dürfen.

Andrea Zarfl ist Diätologin und hat sich in ihrer Praxis in Wien sowie mit ihrem Online-Angebot auf intuitive und achtsame Ernährung spezialisiert. Auf ihrem Instagram-Kanal bringt sie laufend Anregungen und Tipps rund um intuitives Essen, Diätmentalität und den Umgang mit Süßigkeiten.

Ich habe mit ihr darüber gesprochen, was es bedeutet, intuitiv zu essen und warum kleine Kinder oft besser darin sind als Erwachsene. Außerdem haben wir uns darüber unterhalten, wie wir mit der phasenweise einseitigen Ernährung unserer  Kinder umgehen können. Zum Schluss widmen wir uns der Frage, wie Eltern ihren Kindern einen gesunden Umgang mit Süßigkeiten mitgeben können.

 

Theresa: Liebe Andrea, schön, dass du heute mein Gast bist! Ich freu mich, dass wir uns gemeinsam ansehen, welche Anregungen das Wissen über intuitive Ernährung für Eltern bereithält. Aber fangen wir am besten mit der Basis an: was ist denn eigentlich intuitive Ernährung?

Andrea: Sehr gerne! Als erstes ist es mir wichtig, zu sagen, was intuitive Ernährung NICHT ist. Intuitives Essen ist nämlich, anders als von der Diätindustrie vermarktet, KEINE Diät. Bezeichnungen wie „intuitives Abnehmen“, „achtsame Gewichtsreduktion“ oder „Hunger-Sättigungs-Diät“ lassen sich gut verkaufen, haben allerdings nichts mit dem angeborenen intuitiven Essverhalten zu tun. Tatsächlich ist die intuitive Ernährung das Gegenteil einer Diät. Sie ist die Fähigkeit, auf die eigenen Körpersignale zu achten und so zum Beispiel auf unser natürliches Hunger- und Sättigungsgefühl einzugehen.

Im Laufe des Lebens lernen wir häufig, unsere Grundbedürfnisse zu unterdrücken, obwohl sie der Körper eigentlich selbst regulieren könnte. In der Wissenschaft nennt man diese Steuerung der Grundbedürfnisse übrigens Interozeption. So ist auch die angeborene Steuerung der Nährstoffzufuhr über Hunger und Sättigung interozeptiv – sie wird, sozusagen als Überlebensmechanismus, von innen gesteuert.

 

„Es würde uns nie einfallen, uns dazu zu zwingen, nach 18 Uhr nicht mehr aufs Klo zu gehen.“

 

Ein weiteres Grundbedürfnis ist jenes, aufs Klo zu gehen, um unsere Blase zu entleeren, wenn wir einen Harndrang verspüren. Diesem Bedürfnis kommen wir nach, ohne auf die Idee zu kommen, es durch Regeln zu unterdrücken.

 

Der Grund, warum die gute Beziehung zum Essen im Erwachsenenalter oft bereits verloren gegangen ist, dass wir uns bei der Ernährung oft Regeln auferlegen und uns von Glaubenssätzen leiten lassen. Natürlich sind wir dabei ganz stark durch die Umwelt beeinflusst. In Magazinen werden Diäten propagiert, in der Zeitung stehen Tipps wie „nach 18 Uhr nichts essen“ und es kursieren Glaubenssätze wie jener, dass Kohlenhydrate am besten gemieden werden. So kommt es, dass wir gegen unsere inneren Signale arbeiten und kommen irgendwann aus der Diätspirale nicht mehr heraus.

 

Da hast ja bereits gesagt, dass das natürliche Gefühl für Hunger und Sättigung angeboren ist. Einer der Gründe für „BLW“ („baby-led-weaning“), also das vom Baby gesteuerte Füttern, war zum Beispiel auch der Gedanke, dass das Baby so mehr Kontrolle über die gegessene Menge hat. Denn beim Füttern von Brei fällt es manchen schwer, die natürlichen Sättigungssignale des Babys wahrzunehmen. Dadurch kommt es häufig zur „Überfütterung“ des Babys. Zugleich sind Mamas manchmal unsicher, ob ihr Baby genug isst und was die richtige Portionsgröße ist. Was würdest du einer frischgebackenen Mama für die Beikost-Zeit diesbezüglich mitgeben?

Ja, also es ist sicher wichtig, auf die Sättigungssignale des Kindes zu achten. Tatsächlich wird der Grundstein für ein gesundes Essverhalten schon im Baby- und Kleinkindalter gelegt. Wenn das Baby zum Beispiel das Köpfchen wegdreht, kann ich zusammen mit ein paar weiteren Anzeichen davon ausgehen, dass es satt ist. Eltern können da auf jeden Fall auf ihr Baby vertrauen. Und darauf, dass es sich wieder meldet, wenn es Hunger hat.

Eine Abgrenzung ist mir hier in meiner Funktion als Diätologin jedoch sehr wichtig. Eine echte „Fütterungsstörung“ erkennt man beispielsweise an rapider Gewichtsabnahme, Blässe und einer veränderten Wahrnehmung der Umwelt. Wenn es in diese Richtung Bedenken gibt, ist eine medizinische Abklärung mit dem Kinderarzt wichtig und es gibt spezielle Einrichtungen, wie den „Kokon“, wo Kindern und Familien mit Essproblemen geholfen wird.

 

„Sofern keine echte Fütterungsstörung vorliegt, ist es sogar sehr zu empfehlen, auf das Hunger- und Sättigungsgefühl des Babys zu vertrauen.“

 

Wenn wir aber von gesunden Babys und Kindern sprechen, ist es besonders wichtig, entspannt an die Sache ranzugehen und vor allem für eine gemütliche „Fütterungsatmosphäre“ zu sorgen. Du als Mama weißt sicher auch, wie wichtig deine Ausstrahlung und dein Verhalten bei Tisch sind. Je gemütlicher das Beisammensein beim Essen zelebriert wird, desto angenehmer ist das für das Kind. Das wirkt sich in jedem Fall positiv auf die spätere Beziehung zum Essen aus.

 

Eine Schwierigkeit kann auch sein, dass sich die Ansichten zu Portionsgröße und „Aufessen“ innerhalb einer Familie unterscheiden. Hast du diesbezüglich einen persönlichen Tipp, nachdem die Erkenntnisse über die intuitive Ernährung relativ „neu“ sind?

Ich denke, dass in unserer Gesellschaft hier wirklich ein Umdenken stattfinden darf. Zugleich sind Veränderungen oft auch eine Herausforderung. Und wir müssen uns dessen bewusst sein, dass Gewohnheiten und „Regeln“ aus der Vergangenheit auch mit bestem Wissen und Gewissen gelebt wurden. Es ist also nicht schlechter, wie es früher gemacht wurde – Stichwort „der Teller wird leer gegessen“ – sondern es war einfach eine andere Zeit mit anderem Wissensstand.

Heute weiß man, dass wir besonders bei Kindern Unterschiede im täglichen Energiebedarf beobachten können. So wird vielleicht an drei Tagen weniger als üblich gegessen, während die Portionsgrößen an den vier darauffolgenden Tagen größer ausfallen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Beziehung zu unseren Körpersignalen gut ist – und wir gehen jetzt einmal davon aus, dass das bei Kindern so ist – dann müssen wir eigentlich nicht hinterfragen, ob das Kind genug gegessen hat. Beispielsweise kann es auch einfach vorkommen, dass das Kind am Tag einer Kinderparty so abgelenkt und ins Spielen vertieft war, dass es an diesem Tag besonders wenig gegessen hat. Am nächsten Tag holt sich der Organismus das dann aber retour.

 

Was die ersten Esserfahrungen betrifft, denke ich, dass jede Familie hier ihren eigenen Weg finden darf – ob Brei, BLW oder beides. Nur weil die Masse etwas macht, muss es nicht die beste Lösung für die eigene Situation sein.

 

„Ernährungsregeln“ sind für Eltern eine Orientierungshilfe für die gesunde Familienernährung. Ob 5-am-Tag, ausgewogener Teller oder Tipps für gesunde Snacks – im Alltag mit Kindern sind die Empfehlungen nicht immer eins zu eins umsetzbar. Denn Kinder haben nicht immer Lust auf das Gemüse auf dem Teller und manche Eltern sorgen sich über die Nährstoffversorgung ihres Kindes, wenn dieses phasenweise nur trockene Nudeln und Ähnliches isst. Sind diese Sorgen berechtigt?

Ich glaube da dürfen sich die Eltern wirklich den Stress ein bisschen herausnehmen. Die gängigen Ernährungsempfehlungen entstehen, um eine gesunde Ernährung verständlich zu vermitteln und alltagstauglich zu machen. In Wahrheit sind Portionsgrößen oder das Hand-Maß grobe Orientierungshilfen, denen man nicht jeden Tag entsprechen muss. Es macht wesentlich mehr Sinn, eine ganze Woche zu betrachten, und sich anzusehen, wie das Kind beispielsweise die ganze Woche über gegessen hat.

 

„Es macht wesentlich mehr Sinn, eine ganze Woche zu betrachten.“

 

Wenn Eltern – auch aus gutem Glauben heraus – die Kinder in punkto Ernährung zu sehr unter Druck setzen, entsteht schnell eine Ping-Pong-Situation, wo die Kinder mehr und mehr rebellieren. Das Wichtigste ist, den Kindern immer die Fülle anzubieten und eine bunte Auswahl zu schaffen, wo sie sich frei „bedienen“ können.

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„Unsere Geschmacksknospen brauchen 15 bis 20 Berührungen für eine Entscheidung.“

 

Was man auch bedenken muss sind die vielen Sinneseindrücke, die auf so ein kleines Kind in den ersten „Ess-Jahren“ einprasseln. Ob Geschmäcker, Gerüche oder Konsistenzen – Kinder sind mit vielen dieser Eindrücke noch nie oder nicht oft in Berührung gekommen. Aus wissenschaftlicher Perspektive wissen wir, dass wir neue Geschmäcker oder Texturen oft 15 bis 20 Mal „erlebt“ haben müssen, um entscheiden zu können, ob wir etwas mögen.

 

Gerade das braucht eben auch viel Geduld als Eltern. Zu wissen, dass man mit einem abwechslungsreichen Speiseplan und einer stressfreien Atmosphäre bei Tisch auf dem richtigen Weg ist, kann Eltern hier sicher den Druck nehmen. Denn es heißt: nicht aufgeben, wenn eine Gemüse-Sorte schon zum dritten Mal nicht angerührt wurde, sondern weiter immer wieder anbieten, ohne das Kind zum Essen zu überreden. Und es gibt keinen Schuldigen, wenn die Liste der gegessenen Lebensmittel noch nicht allzu lange ist. Wichtig ist, über die Woche gesehen für Abwechslung zu sorgen und als Eltern mit gutem Beispiel voranzugehen.

 

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Über Andrea Zarfl:

Andrea Zarfl ist Diätologin und Expertin für intuitives Essen. Sie ist davon überzeugt, dass Essen in erster Linie Freude bereiten soll und keine Schuldgefühle verursachen darf. Stress oder schlechtes Gewissen haben bei Tisch keinen Platz. Neben ihrer Passion anderen Frauen auf ihrem Weg in Richtung intuitive Ernährung zu begleiten, kreiert sie aus Leidenschaft neue Rezepte, die sowohl Körper als auch Seele guttun. Weil sie außerdem der Meinung ist „Wissen ist Macht“, erscheinen auf ihrer Webseite neben den Rezepten regelmäßig Artikel über Gesundheit, Stoffwechsel und intuitive Ernährung – damit zukünftig jeder selbst die vielen Falschaussagen im Bereich Ernährung und Gesundheit entlarven kann. Weitere Infos und Tipps von Andrea findest du auf ihrem Instagram Account @dietitian.andrea

 

Über Theresa Culligan:

Als Ernährungstrainerin, Mutter und Gründerin von AUSGEWOGENgut ist mir die alltagstaugliche gesunde Familienküche ein besonderes Anliegen. Dazu gehören für mich neben Anregungen zur Lebensmittelauswahl auch Tipps für zeitsparendes Kochen sowie die Entwicklung gesunder und zugleich schmackhafter Rezepte, die Eltern und Kinder glücklich machen. Mit meinem Blog gebe ich wissenschaftlich fundiertes Wissen wie auch Erfahrungen weiter, die dabei helfen sollen, eine gesunde Ernährung praxistauglich im Alltag mit Kindern umzusetzen. Weiters gebe ich mein Wissen rund um eine gesundheitsfördernde Ernährung in Form von Vorträgen und Workshops weiter und biete Online-Angebote wie das Wochenplan-Abo mit gesunden Blitzrezepten für Groß und Klein an. Einen Überblick über alle aktuellen Angebote gibt es hier >>

 

 

 

Sämtliche Anregungen ersetzen keine individuelle Ernährungsberatung und dürfen keinesfalls als persönliche, ernährungsmedizinische Empfehlung betrachtet werden.